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Junischreibzeit #1

"Im Zug ist man gezwungen, zu denken, zu schweigen, hinzuhören. Die eigenen Stimmen zu beachten, die in einem flüstern, leise, so leise, dass man sich konzentrieren muss, um sicherzugehen, dass man sie richtig versteht. Man kann nicht anders als sich ihnen zu stellen, es gibt keine Ausreden mehr, kein Verdrängen, kein Entfliehen. Kein Ablenken, nichts Anderes, was man machen kann, um wegzulaufen vor dem, was einen bewegt, was auf der Seele liegt und einen gemächlich von innen zerfrisst, wenn man nicht aufpasst. Wegätzt, wie Säure, die sich langsam ausbreitet. Wenn man nicht achtet. (...)

Und wenn man sich dann eingesteht, dass man zu viel denkt, dass die Unzufriedenheit zu groß ist, die einen in den Handlungen antreibt, dass alles zu viel wird, dass es zu viele Tränen werden, zu viel Kraftlosigkeit, zu viele Kalorien und ein bisschen zu viel Sport, dagegen zu wenig Gedanken an andere Dinge und zu wenig glücklich-sein, dann ist ein Schritt geschafft. Ein großer vielleicht sogar. Und wenn man sich mitteilt, um Hilfe ruft, fleht, bettelt, weil es nicht geht, weil man allein nicht mehr kann, dann ist vielleicht noch ein Schritt geschafft. Aber das sind noch lange nicht genug Schritte! Dann, plötzlich, sieht man auf und erkennt, dass da ein ganz langer Weg vor einem liegt. Da ist noch lange kein Ziel in sich, noch lange kein Ende. Wie ist man auf diesen Weg gekommen? Und wie kommt man wieder herunter? Plötzlich überlegt man… Was ist falsch gelaufen? Seit wann? Wie lange sind Verhaltensweisen normal und wann beginnen sie, zwanghaft zu werden, krankhaft? Es dauert, bis einem verschiedene Dinge einfallen, verschiedene Pflastersteine, mit denen man selbst Pfade gebaut hat, die zu dem schwierigen Weg geführt haben, auf dem man sich nun befindet. Manche Steine hat man vielleicht selbst getragen, andere waren plötzlich da, wie von Geisterhand. Vielleicht hat auch der eine oder andere Mensch einen Stein dazugelegt, vielleicht, ohne es zu wissen, oder gar zu wollen. Nach und nach haben sie sich ihren Weg gelegt, aneinandergereiht und einen durch das Dickicht geführt, bis man am Anfang des großen Weges steht. Und plötzlich merkt man erst – Moment! Halt! Das ist die völlig falsche Richtung! Hier geht es nicht dorthin, wo ich eigentlich hin will! Umkehren geht nicht! Ich habe mich verlaufen! Aber was tut man, wenn man realisiert, dass man falsch ist? Wenn alle Rückwege plötzlich überwuchert sind, man nicht mehr weg findet? Man hat nur noch den einen Weg, den man gehen kann. Dabei war es doch anfangs so, dass einem so viele verschiedene offen standen?

Wenn man nur einen Weg hat, den man gehen kann, dann muss man ihn gehen. Durchs Stehenbleiben kommt man nicht voran. (...)

Habe Hoffnung gehabt, dass ich es damit in den Griff bekomme. Hoffnung allein reicht leider nicht. Nach und nach schleicht die Gewissheit heran. Es geht nicht. Man kämpft für sich, für die körperliche Gesundheit. Und ebenso für die psychische. Man will sich besser fühlen, stärker, gesünder, zufriedener. Aber einen Kampf kann man nur führen, wenn man einen Gegner hat. Es braucht einen Moment, bis man erkennt, wer dort drüben steht. Schwer bewaffnet und angsteinflößend, im Nebel, einem direkt gegenüber. Wessen Gesicht befindet sich unter dem Helm dort? Ich kann es nicht sehen! Wie unheimlich! Wer ist das? Wer?

Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen – das bin ich selbst! Ich kämpfe gegen MICH selbst an! Wer könnte ein härterer Gegner sein als man selbst? Ich fordere mich heraus, versuche, mich zu überlisten, auszutricksen, meinen Kampfpartner ruhigzustellen. Aber das geht nicht! Man kann den Kampf gegen einen selbst nicht so einfach gewinnen! (...)

Ich habe Angst. Angst vor dem, was kommt, Angst vor dem, was passieren wird. Davor, mein Studium zu unterbrechen, davor, meine Freunde könnten mich auf der Strecke lassen, weiterstudieren, während ich zurückfalle. Angst davor, allein zu sein mit der Störung, die ausgesprochen so klingt, als könnten nur andere sie haben. Von der man meint, dass man sie eigentlich sehen muss, um zu beweisen, sicherzustellen, dass man sie sich nicht einredet, dass sie wirklich da ist. Aber von der man auf eine merkwürdige Art ebenso sicher weiß, dass sie da ist, weil man sie spürt, auf schmerzliche Weise. Sie steckt in jeder Träne, in jedem der vielen Gedanken, in jedem Gespräch.

Sie ist es, die die Träume vom Essen heraufbeschwört, mir die Kraft raubt und mich antreibt zu Dingen, die nicht gut für mich sind. (...)

Wenn man auf einem Weg gelandet ist, auf den man nicht kommen wollte, muss man ihn trotzdem gehen. Auch, wenn es sich falsch anfühlt, nicht wie geplant. Nicht gut oder schön. Aber irgendwo muss wieder eine Weggabelung kommen, an der es weitergeht. Irgendwann. Wenn man nicht weitergeht, findet man sie nicht. Ich bleibe nicht stehen, ich gehe weiter. Vielleicht langsam, vielleicht mit Schmerzen, aber weiter. Vielleicht nicht allein, sondern mit Hilfe, wenn es sein muss. Aber weiter. Weiter, weiter, weiter. Denn ich spür da etwas in mir, wenn es noch so schwer ist. Ein bisschen Licht, einen kleinen Funken Gewissheit – dass alles gut wird, irgendwann, wenn ich nur weitermache."


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