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Junischreibzeit #4 - Frieden schließen

Manche Zeiten sind einfach schwierig. Dunkel. Man beginnt sich zu fragen, was die Dinge für einen Sinn haben. Warum wird man krank? Welcher Sinn steht dahinter? Man wird weder froh, noch glücklich davon, sondern man investiert viel Kraft, Unzufriedenheit, Tränen. Man kämpft so vor sich hin, jeden Tag. Mit sich, gegen sich, und manchmal kämpft man gegen jede Stunde, jede Minute, in der es einem nicht gut geht. So viele Gespräche, so viele Sorgen, Termine, Verzweiflung.

Ich weiß nicht, wieso ich diese blöde Essstörung entwickelt habe, ich kann noch nicht erkennen, worin dauerhaft ihr Sinn bestehen soll. Ich würde gerne wissen, ob ich eines Tages darüberstehen und sagen kann, dass sie mich stärker gemacht hat, weiser. Dass ich mehr Erkenntnis erlangt habe – über das Leben an sich und vor allem über mich selbst. Dass ich mir selbst durch die Krankheit ein wenig nähergekommen bin.

Dass mein eines und mein anderes Ich Frieden geschlossen haben. Irgendwann.

Dass sie aufhören, sich zu bekriegen, dass sie sich umarmen können, eins werden.

Dass irgendwann die Zahlen keine Rolle mehr spielen. Ich will, dass mir egal ist, welche Lebensmittel wie viele Kalorien haben. Ich will mich gesund ernähren, weil ich meinen Körper liebe und weil ich ihm etwas Gutes tun will und nicht, weil ich ihn verabscheue. Ich will so gerne eines Tages essen können – essen ohne Hintergedanken. Ohne Abwiegen, ohne Schuldgefühle. Nicht währenddessen, nicht vorher und nicht nachher! Aufhören, mich mit anderen zu vergleichen. Zufrieden sein – mit allem an mir. Denn ich bin okay, wie ich bin. Irgendwo tief drinnen weiß ich das doch. Und doch ist der Zwang so stark.

Stopp! Hör auf! – Doch da ist er wieder, reißt mich runter, hält mich fest. Umklammert mich. Du gehörst mir, du dienerst mir zu! Mach, was ich verlange! Du bist nicht autonom, du hast mir zu gehorchen! Ich regiere dich! Ich bestimme, was du isst und wie viel, ich bestimme, wann es dir gut geht und wann nicht, ich habe dich nicht nur in der Hand, sondern ich bin Teil von dir. Ich habe die Macht über deine Gedanken, flüstert er. Über deinen Alltag, deine Beziehungen zu anderen Menschen. Über dich. Und ich bekomme Gänsehaut. Angst. Zittere. Er grinst.

Es ist so schwer, sich vom Zwang freizumachen, auch, wenn ich genau weiß, dass er schlecht für mich ist, dass er mir nicht guttut, was er alles anstellen kann. Es ist schwer, zu verstehen, was für einen Sinn diese blöde Essstörung in meinem ganzen Leben haben soll. Aber ich hoffe – hoffe, dass alles irgendwann Sinn ergibt, dass sich die Teile zusammenfügen, dass ich davon frei werde. Daher werde ich die stationäre Therapie durchführen. Nicht, weil mein BMI schon sehr niedrig wäre, nicht, weil man mir die Essstörung ansehen würde, aber, weil sie da ist. Weil sie mich Tag für Tag in der Hand hat. Aber ich hab ein bisschen Licht bei mir, das hilft mir, auch, wenn es dunkel ist. Ein bisschen Licht – wenn auch nicht viel, ein bisschen gibt es immer.

Und irgendwann kommt dieser Tag. Der Tag, an dem alles was jetzt groß und wichtig erscheint, plötzlich unwichtig und klein wird.

An dem mein eines und mein anderes Ich sich in den Armen liegen, eins sind. Weil sie endlich Frieden geschlossen haben. Irgendwann kommt dieser Tag – an dem alles Sinn macht. An dem plötzlich die Sonne wieder aufgeht. Ganz bestimmt.

Wäsche von Hunkemöller


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