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Julischreibzeit #1

2.7.2017, Sonntag, ein bisschen zeitlos der Tag. Der Himmel sieht zu jeder Tageszeit etwa gleich aus und zwanzig Uhr fühlt sich an wie zwölf Uhr mittags. Es ist ein seltsamer Tag, einer ohne richtigen Anfang, ohne Ende. Ich fühle mich nicht gut, aber nicht schlecht genug, um richtig viel oder richtig lange zu weinen. Nur ein paar Tränen hier und da. Krampfhaftes essen, um mir selbst vorzumachen, dass alles in Ordnung ist, dass alles normal ist, dass ich mir die ganze Essstörung nur einrede. Dass ich nicht in die Klinik muss. Ich versuche, zu normalisieren. Ich weiß das. Irgendwie muss man sich doch selbst austricksen. Aber tricksen hilft nicht, Schuldgefühle kommen immer – vor, während, oder nach dem Essen. Schuldgefühle kommen immer, darauf ist Verlass. Und wenn auf nichts anderes Verlass ist … Schuldgefühle lassen nicht allein, Schuldgefühle bleiben vielleicht einige Zeit lang weg, aber dann schleichen sie sich wieder an, kommen aus dem Hinterhalt, stechen zu. Mit Arglist? Heimtücke? Jura stresst unterbewusst, belastet zusätzlich. Obwohl ich längst beschlossen habe, dieses Semester zu pausieren.

Sport, ganz viel Sport, dann verkrümeln sich die Schuldgefühle wieder etwas. Die Versagensgefühle. Auch, wenn ich keine Kraft habe, wenn jede kleinste Kleinigkeit eine unheimliche Belastung ist… Und sobald ich wieder esse – kommen sie wieder. Und wenn ich „viel“ esse, noch extremer. Sie bleiben nur weg, wenn ich nicht esse, aber das geht nicht lange, denn dann kommt der Hunger. Überrollt, mit Macht. Hunger und Schuldgefühle kämpfen gegeneinander, zwei so starke Gefühle, nicht auszuhalten. Egal, wer gewinnt – ich verliere jedes Mal. NICHT AUSZUHALTEN!

Wie gesagt – auch die Gedanken daran, dass ich die Uni für einige Zeit bei Seite legen muss, belasten mich, obwohl mich das doch eigentlich befreien sollte. Wie soll ich von der Uni loslassen, vom Alltag, wenn mir Loslassen schwerfällt? Das ist mir doch längst bekannt! Loslassen konnte ich nur beim Ausziehen gut – endlich mein eigenes Leben aufbauen! Freiheit! Nur ein paar kleine Tränchen, als ich am Balkonfenster stand und das schwarze Auto wegfuhr, aber schnell weggewischt. Nicht schlimm. Da fiel es mir nicht besonders schwer, ehrlich nicht.

Loslassen von ihm war viel, viel, viel schwerer! Schon beim ersten Mal – und dann wieder – und dann ganz extrem! Wir sind einander einfach immer wieder verfallen. Ihn, mein erstes „Ich liebe dich“ , los zu lassen, war so, so schwer! – und ist es immer noch. Ich geb’s ja zu.

Und dich los zu lassen, wieder nach Hause zu fahren, ist mir gestern Abend auch so schwer gefallen. Eineinhalb schöne Tage plötzlich vorbei, eineinhalb Tage ohne Tränen, mit Lachen, wenn auch mit einem kleinen bisschen Streit zwischendrin – plötzlich um. Als ich am Bahnhof in Düsseldorf saß, hab‘ ich mich so einsam und hoffnungslos wie selten gefühlt. Der Regen, der die Fensterscheiben des Zugs herunterlief, passte einfach. Alles fühlte sich an wie in einem ganz besonders dramatischen Film. Aber die Tränen waren echt, nicht gespielt. Du hast sie nicht gesehen, ich hab‘ gewartet, bis du weg warst. Aber sie waren echt. Hättest du mir geglaubt? Bestimmt.

Und dann gestern Abend wieder allein einzuschlafen, kein Arm um mich – tat so weh. Obwohl du doch für mich da bist, auch, wenn du nicht bei mir bist… Aber die Wärme. Und deine Stimme. WEG! Whatsapp reicht nicht. Auch telefonieren nicht! NEIN! Sei bei mir, lass mich nicht allein. Hast du es in meinen Augen gesehen, das Bitten, die Angst? Und dann wieder leer neben mir. Zack, unerwartet. Leer in mir. Nichts, was mich ausfüllt – außer der Essstörung. Dann wieder daran klammern, irgendwo dran festhalten! Wenn nicht an dir, dann daran, auch, wenn das nicht schön ist. Und Loslassen von der Essstörung – wie soll das gehen? Dich loszulassen ist doch schwer genug! Aber nach festhalten und umarmt werden kommt immer loslassen. Ist das für dich eigentlich genauso schwer?

Morgen werde ich in die Klinik aufgenommen. Und ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die an mich denken werden. Die mir schreiben, Nachrichten aufnehmen werden, vielleicht anrufen. Aber die Traurigkeit über den Sommer, den ich mir so anders vorgestellt hatte, die hab‘ ich ganz allein. Zwölf Wochen, drei Monate. Allein einschlafen, das bekämpfen, was mich bekämpft, von innen… Ich hab‘ keine Worte für das, was ich fühle, mich kann nichts trösten, nichts ablenken, von dem, was mich bewegt, was mich erstarren lässt. Ich weiß nicht, ob da Wellengang oder Eis ist in mir. Aber ich friere. Und ich weiß nicht, ob ich will, dass dieser seltsame Tag ohne Ende vorbeigeht oder einfach andauert. Wo bist du? Halt mich fest, bitte! Versteck dich mit mir, unter der Decke, irgendwo, egal! Da, wo uns keiner findet, da, wo ich mich nicht finde. Halt die Zeit an oder lass sie einfach laufen, aber – bleib ! – lass mich nicht allein!


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