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Julischreibzeit #2 Über Kränkungen

Ich habe eine interessante Rede von Prof. Dr. Reinhard Haller über die Macht der Kränkung gehört. Erst fast etwas voreingenommen, dass mich nun eine sehr trockene wissenschaftliche Erörterung (Prof. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater) erwartet, habe dann aber nach und nach gemerkt, dass Kränkungen durchaus eine sehr praktische Rolle spielen – und das nicht nur in meinem Leben.

Ein paar persönliche Gedanken, die in meinem Kopf nachklingen:

Man denke nur an Instagram. Was genau ist Instagram eigentlich? Eine Website, auf der sich unzählige Bilder tummeln, könnte man einem Laien vielleicht sagen. Vor allem als App erfährt Instagram außerordentliche Verbreitung. Unter Urlaubsbildern, Fotos von Speisen und Getränken oder Tierbildern finden sich auch sämtliche Bilder von Kleidung, Accessoires, Schuhen und allen denkbaren und undenkbaren Artikeln, die man unbedingt zu brauchen scheint. Aber damit noch lange nicht genug! Die allermeisten Bilder sind solche von hübschen Gesichtern, langen braunen Beinen und Sixpacks. Wenige „digitale Gegenbewegungen“ fallen kaum ins Gewicht. Man ist beeindruckt, geblendet von dem, was man zu sehen bekommt, von der Scheinwelt, die zwar mit der Realität nichts mehr zu tun hat, aber die Sehnsüchte und Hoffnungen weckt. Ich glaube, dass weder das Wissen, das 90% aller Bilder auf Instagram durch Filter optimiert oder durch Bearbeitung verzerrt sind, noch eine grundsätzliche Zufriedenheit mit sich selbst wirklich vor Instagram schützen können. Warum nicht? Wenn man sich darüber im Klaren ist, dass Instagram nur eine Unterhaltungsform für Jugendliche und eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle für Firmen, Unternehmen und ebenso für Personen mit großem Einflussfaktor ist, müsste dann nicht alles in Ordnung sein?

Ich fürchte nicht. Instagram tut genau das, was für viele junge Menschen absolut gefährlich sein kann: Es ruft zur Selbstoptimierung auf. (Dazu mehr im folgenden Post). Was auch immer die Bilder auf Instagram zeigen – sie konfrontieren den Betrachter im Normalfall mit dem, was er nicht hat, aber sich dennoch erträumt. Luxus, Reichtum und Schönheit scheinen alle auf Instagram zu haben. Davon, was er nicht erreicht hat, was ihm fehlt, von persönlichen oder familiären Problemen, von Misserfolgen oder dem Alltag wird weniger gezeigt. Im Vordergrund steht das scheinbar perfekte, entspannte, maximal erfüllte Leben. Wer wünscht sich das nicht?

Prof. Dr. Reinhard Haller spricht in seiner Rede nicht über Instagram, sondern über Kränkungen. Bei genauerer Betrachtung sehe ich hier allerdings einen starken Zusammenhang.

Instagram fördert nicht nur die Selbstoptimierung, sondern auch den Narzissmus. Jeder möchte sich selbst darstellen und von anderen wahrgenommen werden. Natürlich nicht als der, der er ist, aber als der, der er zu sein vorgibt. Jeder ist auf Instagram wohlhabend und schön. Da, wo die Differenz zwischen der Realität und der Traumwelt vielleicht am größten ist, sehe ich großes Potential für Kränkungen. Prof. Dr. Reinhard Haller beschreibt den Wachstum des Narzissmus im digitalen Zeitalter eng verbunden mit den Möglichkeiten der Kränkung, denn wer sich selbst als das Maß aller Dinge sieht, der ist verletzlich, der ist leicht zu kränken.

Die Kränkung, so erklärt Prof. Haller, beruht ursprünglich auf der tief verankerten Angst vor Liebesmangel, auf der Angst vor Liebesentzug. Das ist mir leicht verständlich, denn jeder „Liebesentzug“ eines Lebewesens durch seine Mutter oder seine Artgenossen erschwert das Überleben. Wenn man anderen Menschen Bilder vom eigenen Leben zeigt (und seien sie auch geschönt) gibt man ihnen automatisch die Möglichkeit, zu bewerten. Vor allem Instagram kategorisiert: Die meisten virtuellen Follower haben jene, die genau das zu haben scheinen, was uns fehlt. Wer bewerten kann, hat Macht – die Macht, jemand anderen zu kränken, in ihm Unwohlsein, Ängste hervorzurufen. Auch Zweifel und Minderwertigkeitsgefühle, die doch gar nicht begründet sein müssen!

Wer kränkt, macht andere krank, so viel steht fest!

Kränkungen können viel anrichten, weiß auch Prof. Haller. Sie sind oftmals Ursachen von Verbrechen, vom Wunsch nach der Betäubung durch Drogen oder Depressionen, sogar von Amok. Prof. Haller weist trotzdem darauf hin: Der Mensch ist und bleibt ein kränkendes, aber zugleich ebenso kränkbares Wesen. Instagram bietet eben eine ideale Angriffsfläche für Kränkungen: Der Prozess, den Haller beschreibt, der bei einer Kränkung vor sich geht, nämlich der Kränkungsprozess zwischen Kränkendem und Gekränktem, kann mit wenigen Blicken geschehen! Denn nicht nur persönliche, konkret an mich gerichtete Worte können kränken; ebenso können Bilder die Macht dazu entfalten, mir meine Fehler und Schwächen auf brutale Art und Weise aufzuzeigen. Ein Bild, was mir zeigt, was ich nicht habe, aber scheinbar für meine soziale Akzeptanz haben muss, kann viel kränkender sein als ein lapidares „tu mal mehr für deine Figur!“, „kauf dir mal…!“ oder „dein(e) … ist so nicht schön!“

Deswegen sollte und muss man sich selbst Fragen stellen: Wenn Kränkungen ohnehin unvermeidlich sind, kann ich nicht versuchen, sie zu minimieren? Kann es nicht hilfreich sein, selbst darüber zu entscheiden, wer mich kränkt, ob ich wirklich fremden Menschen, die dies auch noch ohne von meiner Existenz zu wissen, über Instagram tun, die Macht dazu verleihen will?

Wenn ich selbst diese narzisstische Bewegung unterstütze indem ich geschönte Bilder von mir hochlade und dadurch anderen aufzeige, dass sie zum Glücklichsein scheinbar essentielle Dinge nicht haben, helfe ich jemandem? Tue ich das, was Prof. Haller in Anschluss an Stephen Hockins Gedanken anpreist:

Tue ich etwas für den schönen, kränkungsärmsten Zustand, den es gibt, nämlich für die mitmenschliche Empathie?


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